Ein verbreitetes Missverständnis in Pflegeeinrichtungen ist: „Wenn dem Patienten / Bewohner etwas passiert, was man durch freiheitsentziehende Maßnahmen (feM) hätte verhindern können, dann muss man haften.“
Dr. jur. Sebastian Kirsch, Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen sowie Mitbegründer und seither der „juristische Kopf“ der Idee des Werdenfelser Weges, hat nachfolgend für unseren Blog diese Aussage näher beleuchtet:
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass nach zwei Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 28.4.2005 und 14.07.2005 derartige Haftungsängste weitgehend unbegründet sind:
1. Der Versorgungsauftrag einer Einrichtung, die für die Pflege eines ihm anvertrauten Bewohners verantwortlich ist, umfasst die Verpflichtung, ihn vor Gesundheitsschädigungen, also auch vor allem vor Stürzen, zu bewahren.
2. Der Träger einer Einrichtung hat gegenüber den Patienten Obhuts- und Verkehrssicherungspflichten. Hilflosigkeit, Gebrechlichkeit, Verkehrsunsicherheit und Verwirrtheit des Bewohners schaffen eine besondere Gefahrenlage und müssen als Gefahrenquelle berücksichtigt werden.
3. Um Verletzungen zu vermeiden, muss der Träger geeignete Maßnahmen und Vorkehrungen treffen und beispielsweise für eine adäquate Sturzprophylaxe sorgen.
4. Diese Pflicht beschränkt sich auf das Erforderliche und das für das Personal und die Patienten Zumutbare.
Ausgestaltung der Pflichten gegenüber Patienten nach dem anerkannten Stand fachlicher Kenntnisse
Es besteht die Verpflichtung die Leistungen nach dem jeweils anerkannten Stand fachlicher Kenntnisse zu erbringen. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn vom geschuldeten Facharztstandard abgewichen wird (vgl. BGH Urteil vom 6. Mai 2003, AZ: VI ZR 259/02).
Ein Pflegefehler liegt vor, wenn vom anerkannten Standard fachlicher Erkenntnisse, die im Pflegebereich gelten, abgewichen wird (LG Berlin). Maßgeblich ist beispielsweise der „Expertenstandard Sturzprophylaxe„, der den Stand pflegefachlicher Erkenntnisse darstellt.
Günstig für die Einrichtung ist, dass bei einer Selbstverletzung oder einem Sturz im Krankenhaus zunächst die Beweislast für eine objektive Pflichtverletzung grundsätzlich beim Kläger bzw. der klagenden Krankenkasse liegt, also demjenigen, der Ansprüche geltend macht. „Allein aus dem Umstand, dass der Patient sich im Bereich des Krankenhaus gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, kann nicht auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Personals geschlossen werden.“
Diese Aussage lässt sich auch so zusammenfassen, dass Stürze zum allgemeines Lebensrisiko des Patienten zählen, das auch innerhalb einer Einrichtung gilt. Ausnahmen sind konkrete Sondersituationen, in der der Patient den Ärzten und Pflegenden voll ausgeliefert ist und voll auf sie Vertrauen muss. Juristisch spricht man in diesem Fällen auch von „voll beherrschbaren Risikolagen“
Folgende Fallgruppen können hierzu zählen:
– Stürze/Selbstverletzungen während pflegerischer/medizinischer Maßnahmen
– Anfänger werden eingesetzt, wo Fachleute Hand anlegen müssten
– Verletzungen ausgelöst durch feM (Notwendigkeit, Anwendungsfehler, rechtliche Grundlage)
– Mangelnde Eignung eingesetzter Hilfsmittel
– Mangelnde technische Beherrschung eingesetzter Geräte
Grundsätzlich geht es nicht nur darum, den sichersten Weg zu wählen, sondern dem Patienten ein würdevolles und eigenständiges Leben auch im Krankenhaus oder der Pflegeeinrichtung zu ermöglichen. Die Würde und die Interessen der Patienten ist vor Beeinträchtigungen zu schützen. In gleichem Maße sind die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung zu wahren und zu fördern. Nach den aktuellen Expertenstandards haben Patienten nach dem Ende einer Fixierung im Bett ein doppelt so hohes Risiko zu stürzen.