Pflegen ist ein emotionaler und körperlicher Kraftakt. Wie Pflegende dem Stress entkommen:
Bürokratie und Dokumentation, körperliche Anstrengung und immer zu wenig Zeit pro Patient – Kaum ein Angestellter in Deutschland leidet so sehr unter Stress wie Pflegekräfte. Das fand die Studie „Stress und Resilienz“ im Auftrag der Asklepios Kliniken 2017 heraus. Das System können wir erstmal nicht ändern, aber unseren Umgang damit. Wie Pflegende mit dem mentalen Stress umgehen können, lesen Sie hier.
Studie: Pflegende sind außerordentlichem Stress ausgesetzt
Mehr als die Hälfte aller Pflegekräfte in Pflegeheimen, im ambulanten Pflegedienst und in Kliniken leidet aufgrund von Stress häufig oder regelmäßig unter körperlichen Beschwerden, ein Drittel unter psychischen Symptomen. Während in Kliniken mit 45 Prozent die Arbeitsverdichtung generell am meisten belastet, sind es in Pflegeheimen mit 51 Prozent zu wenig Zeit pro Bewohner und im ambulanten Pflegedienst mit 44 Prozent die Bürokratie und Dokumentation. Das gleiche steht auch für Pflegepersonal privater Kliniken mit 41 Prozent im Vordergrund.
Volker R. ist Wohnbereichsleiter in einer Pflege-Einrichtung mit 70 Bewohnern. Der 55-Jährige liebt seinen Job und hilft seinen Schutzbefohlenen mit ganzem Herzen und vollem Einsatz. Über Jahre hatte er zweistellige Patientenzahlen zu betreuen, doch es werden immer mehr und mehr. Wohnbereiche wurden zusammengelegt, Personal abgebaut und der Druck von oben immer größer. Gleichzeitig möchte Volker R. auch nicht seine Schützlinge im Stich lassen. „Einen Mindeststandard müssen wir in der Pflege einfach halten, da kann ich nicht den Bettel hinwerfen“, fühlt sich der Mittfünfziger verantwortlich. In dieser Situation arbeiten Volker R.s Vorgesetzte mit Druck: Sie erwarten für dieses Jahr erneut, dass er die Bewohner mit einem minimalen Personalschlüssel betreut und dabei auch die Prüfungen des MKD mit Bestnoten besteht.
Laut Studie befindet sich Volker R. in bester Gesellschaft. Mit 60 Prozent körperlichen und 46 Prozent psychischen Symptomen liegen Mitarbeiter in Seniorenheimen deutlich vor ambulanten Pflegediensten (59 Prozent und 34 Prozent) und Klinikpflegepersonal (39 Prozent). Wenn ein hohes Stresslevel berichtet wird und der negative Stress überwiegt, kommt es auch zu einer doppelt so hohen Rate an Beschwerden wie Rückenschmerzen, Bluthochdruck und Schlafproblemen.
Körperliche Symptome sind Warnzeichen für zu viel Stress
„In dieser Situation kam der Mann zu mir“, sagt Leonhard Fromm. Der Schorndorfer Coach, der seit einer vierjährigen, nebenberuflichen Ausbildung zum Gestalttherapeuten im Business-Umfeld arbeitet, war ihm empfohlen worden, nachdem er über Schlafstörungen, Existenzängste und Selbstzweifel geklagt hatte. „Das Beispiel zeigt, dass Druck keine Lösung ist und zeugt vom Unvermögen vieler Führungskräfte“, sagt der 56-Jährige.
Mit Volker R. leuchtete er zunächst dessen Biographie aus, die von Loyalität und Pflichtgefühl geprägt ist. Nicht zu befolgen, was Autoritäten wie Vater, Lehrer oder Chefs sagen, galt ihm ungeprüft als Verrat. Hinzu kam, dass die Pflegekraft trotz ihres selbstbewussten Auftretens einen nur geringen Selbstwert hatte, der sich nur über Erfolge im Außen kurzfristig verbesserte. Fromm erarbeitete mit ihm also, worauf er noch stolz sein kann: Seine attraktive Frau, die ihn liebt; seine Söhne, die erfolgreich im Beruf stehen und ihn sehr respektieren; seine Freunde; Krisen, die er gemeistert hat; sein abbezahltes Haus; seine handwerklichen Fertigkeiten.
Konzentration auf Positives im Leben, Kritik abprallen lassen
Der Therapeut: „Wir machen oft den Fehler, uns auf das Berufliche zu reduzieren und sind dann komplett abhängig, was dort ganz aktuell passiert.“ Mit dem verbesserten Selbstwert weitete sich R.s Blick. Ihm wurde klar, dass er auch als Teilzeitkraft noch ein gutes Einkommen hätte und dies nicht persönlich nehmen müsse, weil er sich faktisch keine Fehler bei der Pflege vorzuwerfen wusste. Die Folge: Er schläft wieder deutlich besser, hat seinen Humor wiedergefunden und ist selbstbewusster und souveräner geworden.
Positive Einstellung merken auch die Bewohner
Das spiegeln ihm auch Bewohner und Kollegen, die ihrerseits große Sorgen haben. Der Austausch mit ihm sei für sie jedes Mal ein Gewinn, seine Sichtweisen und Fröhlichkeit täten ihnen gut und seine fachliche Beratung sei ohnehin exzellent. Vereinzelt hat diese persönliche Sympathie dazu geführt, dass R.s Arbeit mehr und mehr gewürdigt wurde als zuvor. Der Coach: „R. hat sogar den Eindruck, dass ihn seine Vorgesetzten zunehmend in Ruhe arbeiten lassen, weil er auf ihre Angriffe nicht mehr anspringt.“ Für Pflegende, die massiv unter Druck stehen und täglich mit vielen beruflichen Niederlagen umgehen müssen, hat er den Tipp, sich täglich selbst folgende Fragen zu stellen, um nicht in den Mangel zu rutschen und sich als minderwertig zu empfinden: Was macht mein Leben schön? Wer liebt mich? Wen liebe ich? Was war heute schön? Was habe ich heute gelernt?
Diese Fragen, so der Coach, zielten auf unsere Ressourcen und unsere Lebensfreude ab. „Keinesfalls sollten Sie Ihre Antworten bewerten, denn der Vergleich ist das größte Übel unseres Wohlbefindens,“ sagt Fromm, der als Lebensberater im Internet firmiert und einst Theologie studiert und 13 Jahre als Wirtschaftsredakteur gearbeitet hat.