Mobilitätsförderung muss den eindeutigen Vorrang vor Mobilitätsbeschränkungen haben

„Mobilitätsförderung muss den eindeutigen Vorrang vor Mobilitätsbeschränkungen haben. Nur durch gemeinsame Verantwortungsübernahme aller Professionen und konsequente intensive Einzelfallbetrachtung kann uns der langfristige Durchbruch zur Vermeidung freiheitsentziehender Automatismen in der Altenpflege gelingen. Und es beflügelt mich, wie wir alle mit unserer Arbeit auf dem Werdenfelser Weg Unterstützung und Zuspruch erfahren, von Justizministern mehrerer Bundesländer bis hin zur Pflegekraft vor Ort.“ so Dr. jur. Sebastian Kirsch.

Dr. jur. Sebastian Kirsch ist Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen sowie Mitbegründer und seither der „juristische Kopf“ der Idee des Werdenfelser Weges.

Dr. jur. Sebastian Kirsch ist Richter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen sowie Mitbegründer und seither der „juristische Kopf“ der Idee des Werdenfelser Weges. Für den CareTRIALOG nahm Herr Dr. Kirsch zur Arbeit des Werdenfelser  Wegs und zum übergeordneten Thema freiheitsentziehende Maßnahmen Stellung.

Was war die Motivation/der Auslöser, den Werdenfelser Weg ins Leben zu rufen?

Dr. Sebastian Kirsch: Am Anfang des Werdenfelser Wegs stand eine eher zufällige Teilnahme an einem rechtsmedizinischen Vortrag von Frau Prof. Berzlanovich, die sich intensiv mit der Materie der Risiken von mechanischen Fixierungen auseinandergesetzt hatte. Ich erlebte schockierende Bilder und erfuhr  mir unbekannte Fakten. Daraus ergab sich damals das persönliche  Eingeständnis  meiner Unzulänglichkeit als langjähriger Betreuungsrichter. Über das Genehmigungsverfahren ist uns Verantwortung für das Schicksal von hilflosen Menschen anvertraut worden. Und ich musste mir eingestehen, dass ich dieser Verantwortung nicht entsprechend gearbeitet habe. Gefahrenmomente und Verschlechterungsrisiken waren bei unserer vorherigen Art der Verfahrensdurchführung unbeachtet geblieben. Stellen Sie sich den Schreck vor, über mehrere Jahre möglicherweise einige 100 richterliche Entscheidungen getroffen zu haben, die andere Menschen gefährdet oder geschädigt haben.

Wir hatten daraufhin am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen reagiert und ein einfaches und pragmatisches Konzept zur Verbesserung konzipiert und installiert. Federführend war dabei auch der Leiter der örtlichen Betreuungsstelle in Garmisch-Partenkirchen Josef Wassermann. Die erste Überraschung war die schnelle positive Entwicklung innerhalb unseres Bezirks. Und die noch größere Überraschung ein paar Jahre später, als ab 2010 sich ein bayernweites und bundesweites Interesse entwickelte. Mittlerweile zähle ich etwa 200 Gerichtsbezirke, die das Konzept anwenden.

 

Welchen Kernthemen nimmt sich der Werdenfelser Weg insbesondere an? Mit wem arbeitet er wie zusammen, was ist das Ziel?

Dr. Sebastian Kirsch: Der Werdenfelser Weg hat seine Herkunft aus der stationären Altenpflege und Fixierungen bei Sturzrisiken. Hier haben wir in den letzten Jahren gemeinsam mit vielen engagierten Menschen bundesweit in der Pflege einen Bewusstseinswandel einleiten können. Es wird vielerorts nicht mehr leichtfertig fixiert, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war.

Zweitens, wir befassen uns derzeit mit Fixierungsmaßnahmen als Reaktion auf herausforderndes Verhalten. Das ist unser Jahresthema 2017, weil wir da ganz viel Handlungsunsicherheit bei den Akteuren verspüren. Der Fachtag 2017, ein jährliches  großes Treffen mit 300 bis 400 aktiven Freunden des Werdenfelser Wegs und viele Seminare und Vorträge auch außerhalb dieser Veranstaltung, sind von diesem Thema geprägt. Ob Krankenschwester, Heilerziehungspfleger oder Altenpfleger – fast jeder, der in einem Bereich der Pflege zu tun hat, war schon mit dem Thema hautnah konfrontiert. Es reicht von Schlagen, Treten, Spucken, Beißen, Schubsen, Zerren, Reißen, Würgen bis zu sexuellen Übergriffen. Mitarbeiter erleben  Erniedrigung, Traurigkeit, aber auch fachliche Selbstzweifel und Hilflosigkeit.

Gewalt erzeugt  aber auch Gegengewalt. Aggressives Verhalten der Betreuten wird oftmals mit Zwangsmaßnahmen beantwortet: Die Betreuten werden teilweise sediert oder  fixiert. Pflegende, egal ob Laien oder Fachkräfte, sind aufgrund mangelnder personeller und materieller Unterstützung bei ihrer Tätigkeit stark überfordert. Wirkungsvolle Hilfen bei psychischen oder physischen Nöten fehlen in der Regel oder sind nicht umsetzbar. Und wenn Gewalt keine Gegengewalt erzeugt, verbleibt  dann nur Machtlosigkeit? Oder gibt es in manchen Fällen andere Lösungen, individuelle Lösungen? Ein fachlich und menschlich schwieriges Thema.

Drittens, generell die Fixierungssituation im Krankenhaus.

Wir machen mittlerweile auch viele Veranstaltungen in Krankenhäusern, um die Beratung dort anzustoßen. Und beispielsweise in unseren Krankenhäusern im Landkreis Garmisch-Partenkirchen spüre ich seit mehreren Jahren schon eine Bewusstseinsveränderung. Und die hat ganz praktische Auswirkungen, beispielsweise durch Sitzwachen bei unruhigen Bewohnern und andere spezielle Konzepte, die heute angewendet werden, wo früher eine Gurtfixierung oder unreflektiert ein Bettgitter angewendet wurden.

Und dann arbeiten wir viertens, am Thema der medikamentösen Fixierung.

Wer A sagt, muss auch B sagen. Es kann nicht sein, dass wir uns mit Nachdruck gemeinsam gegen mechanische Fixierungen einsetzen und auf dem Auge der gezielten Freiheitsentziehung durch Medikamenteneinsatz blind sind. Gerichtliche Genehmigungsverfahren finden bezüglich des Einsatzes von Medikamenten tatsächlich nur in sehr geringer Anzahl statt.

Wie hat sich der Umgang mit Fixierungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen und deren Genehmigungen in den vergangenen Jahren in Pflege-/Altenheimen und Behinderteneinrichtungen entwickelt – und warum?

Dr. Sebastian Kirsch: Vor ein paar Jahren waren wir alle noch nachlässig in dem Entscheidungsprozess. Wenn jetzt die Aufmerksamkeit für andere Lösungsstrategien bereits bei der Pflege einen hohen Stellenwert hat, Betreuer oder Bevollmächtigte über alternative Lösungsstrategien somit von Beginn an kompetenter beraten werden, dann finden gerichtliche Genehmigungsverfahren wesentlich seltener statt.

Das korrespondiert mit der Beobachtung, dass in Regionen, in denen der Werdenfelser Weg angewendet wird, häufig die Antragszahlen in den Keller gehen. Auch die bundesweite Statistik, die einen Rückgang um 39 % innerhalb von 4 Jahren aufweist, zeigt die Wirkung. Der Schlüssel liegt in dem gemeinsamen Umdenken aller beteiligten Professionen. Und das beginnt maßgeblich bei der Pflege und den Betreuern und macht viele Gerichtsentscheidungen entbehrlich.

Wie sieht diese Entwicklung (im Vergleich zu den Pflegeheimen) in Krankenhäusern aus?

Dr. Sebastian Kirsch: Bei Krankenhäusern erlebe ich in den letzten zwei Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit. In den psychiatrischen Krankenhäusern haben wir die Aufmerksamkeit schon länger, einige somatische Krankenhäuser ziehen mit großem Interesse nach. Auf Intensivstationen haben wir Fixierungssituationen mit hoher Intensität der Einschränkung, die mitunter traumatisierend wirken, und hoher Falldynamik, bei der sich Zustandsbilder schnell verändern. Auch hier herrscht hoher Handlungsbedarf, denn Patienten werden in manchen Krankenhäusern mehr aus Gewohnheit als fachlich begründet fixiert. Im Rahmen des Einsatzes von Verfahrenspfleger hat sich im Werdenfelser Weg übrigens daraus ergeben, dass wir uns bemühen, für Problemlösungen im Krankenhaus solche spezialisierten Verfahrenspfleger einzusetzen, die selbst in anderen Krankenhäusern beispielsweise auf Intensivstationen arbeiten, um mit ganz spezieller Fachkenntnis an Spezialfragen heranzutreten. Und in Krankenhäusern fehlt mitunter das Verständnis, dass es da rechtliche Regeln gibt, die man beachten muss. Ich erinnere mich an ein Streitgespräch mit einem Chefarzt, dem ich erklärte, dass er nicht einfach so für längere Zeit eine Fixierung anordnen könne, dass es dafür rechtliche Regeln gäbe. Und er erwiderte, dass ich ihm seinen Job nicht erklären müsste, er würde das seit 30 Jahren so handhaben, ich solle mich da nicht einmischen.

Leave a Reply