„Zuhause war für ihn bald schon kein Ort mehr, sondern ein Wohlgefühl, das er verloren hatte.“
„Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held.“ So beschreibt Horst Wenderoth seine Gedanken- und Gefühlswelt, die von einer Diagnose auf den Kopf gestellt wurde: vaskuläre Demenz. Es ist ein Satz, der den Sohn Andreas „in seiner klarsichtigen Poesie erschüttert“. Sein Leben lang war Horst Wenderoth ein Mann des Wortes. Seit drei Jahren aber wenden sich die Wörter von ihm ab und gegen ihn, sagen nicht mehr, was er denkt.
„Ein halber Held – Mein Vater und das Vergessen“ ist die berührende, zuweilen aber auch absurd komische Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater, der sich stets über den Geist definierte, und liefert einen einzigartigen Einblick in das Erleben eines Demenzkranken. Auf einfühlsame Weise werden dabei auch die kreativen Seiten der Krankheit geschildert, die sich von der herkömmlichen, rein pathologischen Wahrnehmung deutlich abheben.
Eine Vater-Sohn-Geschichte, die zeigt, dass nach der Diagnose Demenz das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist und bei allem Abschiedsschmerz auch Trost bleibt.“ (Siehe dazu: www.randomhouse.de/Buch/Ein-halber-Held/Andreas-Wenderoth/e485481.rhd#\|info)
Andreas Wenderoth, geboren 1965, studierte Politologie und Geographie an der FU Berlin, bevor er als freier Autor für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie GWO, SZ-Magazin, Die Zeit, Brigitte sowie DeutschlandRadio Kultur und WDR tätig war. Er ist Theodor-Wolff-Preisträger und wurde mehrfach für den Egon-Erwin-Kisch-, den Henri-Nannen- und den Deutschen Reporterpreis nominiert. Andreas Wenderoth lebt in Berlin (www.andreas-wenderoth.de).
In Ihrem im April im Blessing Verlag erschienen Buch „Ein halber Held“ geben Sie tiefe Einblicke in das Erleben eines Demenzkranken – Ihres Vaters. Gab es einen Auslöser für das Buch? Was war Ihre Motivation?
Andreas Wenderoth: Der eigentliche Auslöser bestand darin, dass sich seine Krankheit auf einmal sehr vehement offenbarte. Dass es ein Buch werden würde, war mir dabei zunächst gar nicht klar. Ich wusste nur, dass ich darüber schreiben musste, um die Situation für mich selbst zu bewältigen. Ich habe dann mit einem Artikel im GEO-Magazin begonnen. Obwohl man mir dafür sehr viel Platz eingeräumt hat, hatte ich danach trotzdem den Eindruck, dass die Geschichte nicht auserzählt war. Also schrieb ich weiter. Dies alles geschah übrigens in Absprache mit meinen Eltern. Nach Abwägung des Für und Wider waren wir der Meinung, dass deutlich mehr Gründe dafür sprachen als dagegen.
Meine Mutter musste nun Freunden und Bekannten nicht mehr umständlich erklären, wie sie die Stimmungen meines Vater – in einer Art stillen Heldentums – täglich ausgleichen musste: Sie konnte einfach einen Artikel (und später das Buch) verteilen. Mein Vater hat die zusätzliche Aufmerksamkeit, die ich ihm mit der Recherche für das Buch entgegengebracht habe, sichtlich genossen. Als ehemaligem Radioredakteur war es ihm vertraut, dass ein Mikrofon auf dem Tisch stand, außerdem hat er schon immer gern über seine Befindlichkeiten geredet. Ein ehemaliger Kollege sagte einmal zu mir: „Ihr Vater war wirklich ein großartiger Mensch, man durfte ihn nur nie fragen, wie es ihm geht.“ Weil er solche, eher der Höflichkeit geschuldeten Fragen, gern dazu nutzte, etwas weiter auszuholen.
Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie zum ersten Mal bewusst erkannt haben, dass Ihr Vater an Demenz erkrankt ist?
Andreas Wenderoth: Es hatte schon längere Zeit Vorzeichen gegeben, aber da wir zu wenig über die Krankheit wussten, hielten wir es für normale Alterserscheinungen. In unserem letzten gemeinsamen Urlaub an die Ostsee hatte sich dann der Eindruck verdichtet, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Mein Vater war oft furchtsam und orientierungslos und hatte immer wieder gesagt, dass er nach Hause wolle. Das würde er allerdings bald auch zuhause sagen. Zuhause war für ihn bald schon kein Ort mehr, sondern ein Wohlgefühl, das er verloren hatte.
Welche Gefühle und Gedanken gingen Ihnen damals durch den Kopf?
Andreas Wenderoth: Das ist also das Alter, habe ich gedacht. Nein, eigentlich habe ich gar nicht viel gedacht, weil wir nun ständig Entscheidungen treffen mussten, und ich es bis dahin auch nicht gewöhnt war, Verantwortung für meine Eltern zu übernehmen. Das ist eine Art ständige Prüfung, von der ich noch nicht sicher bin, ob ich sie schon bestanden habe.
Wenn man seinen Vater sieht, der vielleicht nie der Handlungsstärkste, aber doch immer ein Mann des Wortes war und sich diese Wörter nun beginnen, gegen ihn zu wenden, wenn er scheinbar einfachen Zusammenhängen nicht mehr folgen kann, man also zuschauen muss, wie ein intellektueller Denker seinen Kern und allmählich auch sein Wesen verliert, tut das natürlich sehr weh. Insbesondere deshalb, weil es ein Abschied auf Raten ist. Und es bei der vaskulären Demenz, nach Alzheimer die zweithäufigste Demenzform, leider häufig so ist, dass der Verstand oft immer noch mehr zu leisten imstande ist als das Gedächtnis. Mein Vater weiß oder ahnt zumindest immer noch häufig, was er eigentlich hätte wissen müssen. So bin ich oft im Zweifel, ob ich ihm wirklich mehr Klarheit oder doch lieber stärkere Nebel wünschen soll.
Eine Demenzerkrankung ist immer ein fortschreitender, nicht umkehrbarer Prozess: Wie haben Sie gelernt, mit der Erkrankung Ihres Vaters umzugehen?
Andreas Wenderoth: Ich würde immer noch nicht von mir sagen, dass ich damit umgehen kann. Ich versuche es, aber das ist etwas anderes. Ich versuche mich mit seinem hohen Alter zu trösten – er ist 90 – da gesteht man einem Menschen natürlich eher geistige Schwächen zu als in früheren Jahren. Für ihn selbst ist das übrigens kein Trost. Meistens ist er untröstlich. Eine Weile ist es mir sehr gut und eigentlich zuverlässig gelungen, ihn zumindest stundenweise aus seinen dunklen Gedanken zu reißen.
Wir haben ja auch viel Spaßiges und Beglückendes in den letzten Jahren erlebt. Ich erreiche ihn jetzt aber nicht mehr so häufig, er ist in einer Art Zwischenwelt, die sich meinem Zugriff oft verwehrt. Wenn ich von einem Besuch zurückkehre, bin ich selbst meistens sehr niedergeschlagen. Muss lange Spaziergänge machen, etwas tun, was meine eigene Traurigkeit vertreibt. Wobei ich meine eigene Rolle hier nicht größer machen will, als sie es ist. Die Hauptlast hat eindeutig meine Mutter zu tragen, die sich an seinen schlechten Tagen, seinen bis zu 17 Mal am Tag wiederholtem Vorschlag widersetzen muss, doch am besten gemeinsam zu sterben. Wobei: Sterben will er ja gar nicht, er möchte nur nicht dieses Leben.
Was war besonders schwer?
Andreas Wenderoth: Die Demenz ist eine Reihenschaltung von Verlusten, und jeder einzelne wiegt schwer. In seinen besseren Zeiten, konnte er ganze Runden unterhalten, jetzt sind ihm die Anekdoten weggebrochen, er weiß nicht mehr, worüber er erzählen könnte, auch deshalb schweigt er nun häufig. Ich persönlich bedauere mit am meisten, dass ihm die Musik verloren gegangen ist. Er hat mich zur Klassik und zum Jazz geführt, heute sind das für ihn nur noch Töne, die ihn anstrengen und in ihrer Komplexität überfordern.
Ich habe immer wieder Versuche gemacht, ihm einzelne Stücke vorzuspielen. Aber er hat sich der Musik entzogen. Wie auch den meisten anderen Dingen, die ihn früher umtrieben. Er liest schon lange nicht mehr, oder höchstens mal einen Satz, die Buchstaben verwirren ihn. Früher saß er den ganzen Tag in seinem Sessel und war hinter einer Zeitung verschwunden. Auch wenn er sich einmal nach meinem Namen erkundigt hat, im Moment erkennt er mich immer noch. Allerdings ist ihm nicht immer klar, dass meine Mutter seine Frau ist.
Teil 2 des Interviews folgt in Kürze. Wir danken dem Team von CareTrialog für die zur Verfügungstellung dieses Beitrages
Info: Das Buch „Ein halber Held – Mein Vater und das Vergessen“ ist am18.04.2016 im Blessing Verlag erschienen, 304 Seiten, ISBN: 978-3-89667-558-3. Die gebundene Ausgabe kostet 19,99 EUR.