Ein Interview mit Sören Stein, Pflegeheim St. Raphael, Wickede –
Interviewer: Christopher Loy, Export wissner-bosserhoff

  1. Was sind die Hauptunterschiede zwischen den Bewohnern, die bereits mit Demenz leben und die Menschen, die nicht dement sind, wenn es um die Pflege geht?
    Menschen mit Demenz wissen nicht, wie, wie sie ihren Alltag organisieren sollen. Sie sind nicht in der Lage, zu strukturieren, zu organisieren und die Aufgaben des täglichen Lebens zu bewältigen. Nach deutschem Recht, müssen diese Menschen mit sogenannter Aktiver Pflege unterstützt werden. Aktive Pflege bedeutet, dass wir sie so viel wie nötig unterstützen, aber gleichzeitig sicherstellen, dass wir sie nicht zu sehr unterstützen, um zu gewährleisten, dass sie ihre letzte Unabhängigkeit nicht verlieren. Menschen mit Demenz können oft den richtigen Gegenstand nicht identifizieren. Eine Person mit Demenz würde zum Beispiel versuchen, die Zahnbürste zu benutzen, um sich die Haare zu kämmen. Deshalb muss eine Betreuungsperson, solche Aktivitäten überwachen, und den Patienten, falls nötig, korrigieren und sich dazu um die Dinge kümmern, die der Patient nicht mehr tut.
  1. Haben Menschen, die mit Demenz leben, typische Verhaltensmuster?
    Jede Demenz ist anders. Es gibt verschiedene Arten der Demenz: alkoholische Demenz, Korsakov Demenz, Alzheimer, vaskuläre Demenz, etc.
    Aber manchmal können wir Kernsymptome, wie Vergesslichkeit, Gedächtnisstörungen (Blackout), Verlust der Autonomie, etc. bestimmen. Die verschiedenen Phasen der Demenz kann man mit einem Kind vergleichen das stets neue Dinge lernt, allerdings läuft dies bei einem Demenzkranken in die entgegengesetzte Richtung. Darüber hinaus haben Menschen mit Demenz oftmals Probleme mit der Tageszeit. Sie wissen oft nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Daher hat St. Raphael eine „Nacht-Oase“ eingerichtet. Menschen mit Demenz sind häufig auch in der Nacht hungrig, allerdings wissen sie nicht, dass sie hungrig sind. Unsere Nacht-Oase ist ein Raum mit einer großen Lampe, die die Bewohner anzieht. Dort finden sie nicht nur etwas zu essen, sondern direkt neben dem Tisch gibt es ein Sofa, wo sie sich ausruhen können. Auch beim Essen sind Kleinigkeiten sind wichtig, beispielsweise müssen Sie den Löffel umgekehrt legen, so dass die Bewohner auch sehen können, dass es ein Löffel ist.
    Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass sie die Grenzen des eigenen Körpers nicht mehr spüren. Das ist der Grund, warum manche Menschen ihren eigenen Körper gegen eine Wand oder einen Stuhl drücken, um den Körper zu spüren.
  2. Wie kommunizieren Sie mit dementen Menschen?
    Nach einer Weile können wir die Gefühlswelt eines Bewohners einordnen. Wenn er uns beschuldigt und beschimpft, sind wir uns bewusst, dass der Bewohner nur seine Gefühle ausdrücken möchte.
    In den verschiedenen Stadien der Krankheit kann zudem die Sprachfähigkeit reduziert sein.
    Meist ist es dann so, dass der Bewohner sich nur noch an das zuletzt gesagte Wort erinnert, während alles davor Gesagte aus dem Gedächtnis gelöscht wird.
    Herr Stein hat mir, während des Interviews ein gutes Beispiel dafür gegeben:
    – Herr Loy, ich möchte die Welt eines Bewohner mit Demenz mit einem einfachen Beispiel veranschaulichen. Im Moment sitzen wir in einem Interview, und Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass Sie für wissner-bosserhoff arbeiten… aber ich muss Ihnen etwas klar und deutlich sagen: Sie arbeiten nicht mehr für wissner-bosserhoff, Sie sind ein Bewohner mit Demenz und leben in St. Raphael. Wir werden jetzt auf die Toilette gehen und Sie reinigen Ihr Gebiss… Dieses Beispiel soll veranschaulichen, dass Menschen mit Demenz oft reale Geschichten aus Ihrer Vergangenheit einfallen, sie aber in dem Moment nicht mehr unterscheiden können, ob diese gerade passieren oder vor vielen Jahren stattgefunden haben.
    Vergleicht man das Gehirn mit einem Bücherregal, so stehen dabei jedem Menschen Bücher mit Geschichten aus dem eigenen Leben darin: die eigene Hochzeit, die erste Liebe, das erste Auto, die Geburt des ersten Kindes,… Wenn sich ein normaler Mensch an diese Ereignisse erinnert, nimmt er sich quasi das entsprechende Buch, blättert darin und erinnert sich, wie es damals war. Für einen Bewohner mit Demenz sind diese Erinnerungen dagegen wie eine echte Erfahrung in der Gegenwart und davon nicht zu unterscheiden.
  3. Was wird im Pflegeheim St. Raphael getan, um das Leben der Bewohner, die mit Demenz leben, zu erleichtern?
    Wir nutzen die so genannten „Milieutherapie“. Die gesamte Demenz-Einheit entsprechend der Vergangenheit der Bewohner eingerichtet, also so wie die Menschen den wichtigsten Teil des Lebens verbracht haben. Bestes Beispiel dafür sind eine Bürosituation, eine Schreibtisch mit Schreibmaschine, ein Wohnzimmer und eine Waschküche für die Frauen.
    Wir „schützen“ unsere Menschen mit Demenz vor den Bewohnern, die sich selbstständig orientieren können. Wir geben ihnen quasi eine geschützte Umgebung. Die Vergangenheit hat uns gezeigt, das „gesunde“ Menschen mit Demenz oftmals verbal angreifen: „Warum hast du das vergessen? – Sind Sie nicht in der Lage, Ihre Zähne zu putzen? (…)“
    Menschen mit Demenz verstehen sich untereinander sehr gut und kommen gut miteinander aus. Es gibt kaum Probleme.
  4. Was ist Ihr konkretes Wohnraumkonzept für Menschen mit Demenz?
    Die Bewohner können normal leben und ihr Verhalten zum Ausdruck bringen. Jeder Mitarbeiter kennt die Besonderheiten jedes einzelnen Bewohners und kann ihn daher jederzeit übernehmen. Jeder kann sein Verhalten ausleben und seine Gefühle frei ausdrücken. Niemand hindert sie daran, dadurch haben wir weniger Probleme, z.B. dadurch das Bewohner nicht mehr so aggressiv werden oder andauernd im ganzen Pflegeheim umherlaufen.
    Wie ich bereits erläutert habe, greifen wir nicht ein, wenn sie ihre Gefühle ausdrücken, außer wenn sie sich selbst oder andere Bewohner dabei schaden.
  5. Wie schaffen Sie für die Bewohner Orientierung?
    Wir geben aktive Orientierungshilfen auf der Grundlage regionaler Besonderheiten. In unserer „Stadt“ gibt es eine „Sonnenallee“, einen „Forstweg“ und einen Weg entlang des Flusses. Auf der Grundlage dieser regionalen Besonderheiten, haben wir verschiedene Lebenswelten kreiert und eine auf Farben basierende Orientierung geschaffen (Wald = grün, Sonne = gelb,…). Die Wohnräume sind ähnlich aufgebaut, ganz so, wie es die Bewohner von zu Hause aus kennen.

 

Lesen Sie hier Teil 2 dieses Interviews

 

Laden Sie hier den kompletten Beitrag als PDF herunter: LebenmitDemenz

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3 comments

  1. Kompliment! Ganz toller Artikel. Sehr einfühlsam geschrieben. Hilft, ein Gefühl für Menschen mit Demenz zu entwickeln.

    Ich finde auch super, dass Sie von „Menschen mit Demenz“ sprechen und nicht von „Demenzkranken“.

    Zwei kleine Anmerkungen:

    Ich persönlich fände es schöner, nicht zu formulieren, dass man Menschen mit Demenz „überwachen“
    muss – sondern würde eher positiv sprechen von „begleiten, unterstützen, fördern“.

    Dann ist an einer anderen Stelle die Rede von „normalen“ Menschen im Gegensatz zu Menschen mit Demenz. Hier würde ich den Begriff „normal“ in Anführungsstriche setzen. Denn wer bestimmt schon, was normal ist?

    Ich selber habe früher z.B. immer in die Pflegedokumentation notiert, wenn ein Bewohner nicht zur Aktivierung wollte: „Bewohner verweigert Aktivierung.“ Dann hat mir eine Kollegin mal verdeutlicht, dass das eine harte und wertende Formulierung ist. Seither schreibe ich stets: „Bewohner lehnt Aktivierung ab.“ Das spricht dem dementen Menschen viel mehr Wert zu. Und klngt positiver.

    Uli Zeller, Autor des Buches
    „Frau Krause macht Pause. Andachten zum Vorlesen für Menschen mit Demenz. Brunnen-Verlag.“
    http://brunnen-verlag.de/frau-krause-macht-pause.html#

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    • Hallo Herr Zeller,

      vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Anregungen, die wir gerne bei künftigen Beiträgen berücksichtigen werden. Bei dem oben stehenden Bericht handelt es sich allerdings um ein Interview mit einem Pfleger aus einem hiesigen Pflegeheim, das wir weitestgehend unverändert übernommen haben.
      Übrigens ist nun auch die Fortsetzung des Interviews erschienen. Diese finden Sie hier: http://www.pflege-today.de/leben-mit-demenz-teil-1/

  2. Pingback: LEBEN MIT DEMENZ – TEIL 2 - pflege-today.de